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Gastkommentar im Handelsblatt

Die Politik braucht Visionärinnen und Visionäre

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Datum

06. Januar 2020

Christian Böllhoff in der Handelsblatt-Ausgabe vom 1. Januar 2020

Gibt es einen besseren Plan für das neue Jahr als einen Neuanfang? Sich fragen: Wie ein Land aussehen müsste, in dem wir in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts leben wollen. Ein Ziel haben. Danach handeln. Und dafür sorgen, dass alle an vielen kleinen Bewegungen spüren, dass es vorwärtsgeht. Das hätte schon was.

Zugegeben: Es ist schwierig, sich neu zu erfinden. Aber es lohnt, sich ein Bild der Zukunft zu machen. Nur wenn man sich etwas anderes vorstellen kann, hat man den Wunsch, sich dahin auf den Weg zu machen.

Wer deshalb mehr Visionärinnen und Visionäre in der Politik fordert, hat den Beifall auf seiner Seite – und die Realität gegen sich. Am Ende steht oft, was schon vorher feststand: So, wie man es derzeit macht, ist es gar nicht so verkehrt. Herumdoktern an der Gegenwart.

Alles wird vom Erhalt her gedacht. Das Wort „Vision“ ist aus dem Vokabular des politischen Berlins nahezu verschwunden. Abgesehen vom gern zitierten Satz von Helmut Schmidt: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“ Das klingt super. Dient aber nicht der Zukunft, sondern dem Stillstand.

Der Klimapolitik rennt die Zeit davon, aber statt mit einem echten Ziel zu arbeiten, verheddert man sich im Klein-Klein von Bahntickets und Pendlerpauschalen. Statt eine verheißungsvolle Vorstellung zu entwickeln, wie Mobilität hierzulande aussehen soll, werden mit Fahrverboten und ein paar neuen Radwegen bloß Symptome bekämpft.

Denjenigen, die in der Wirtschaft Strategien für die Transformation entwickeln, ist mit diesem Schlingerkurs nicht geholfen. Klare Ziele – und danach handeln, das brächte nötige Orientierung und Verlässlichkeit.

Politiker sind keine Führungskräfte

China will keine Verbrenner ab 2030 mehr – und die Weltwirtschaft stellt sich darauf ein. Und während mancherorts noch immer ein Zehntel der Jugend ohne Schulabschluss bleibt und Eltern mit Jobangebot sich wegen des Schulföderalismus nicht trauen, mit ihrer Familie das Bundesland zu wechseln, streiten sich die Länder über Ferientermine.

Weil wir nicht wissen, wo wir als Gesellschaft hinwollen, können sich Parteien bei Detailfragen nicht einigen. Basierend auf mutlosen Koalitionsverträgen wird nur das Alltagsgeschäft erledigt. Indes droht der Zusammenhalt der Gesellschaft flöten zu gehen.

Politikerinnen und Politiker von heute sind, das kann man am Leadership-Konzept von Harvard-Professor John Kotter lernen, eher Verwaltende als Führungskräfte. Sie handeln wie Manager, die ein Unternehmen nur organisieren und kontrollieren.

Sie optimieren etwas, was es schon gibt. Leader aber, die ein Zukunftsbild entfalten, neue Möglichkeiten erschließen und dadurch andere mitreißen, sind sie nicht. Es herrscht Pragmatismus: die Kunst, ein Ziel der Realität anzupassen. Aber hinzunehmen, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein wollte, ist nicht pragmatisch. Stattdessen schwingt in dieser Haltung Resignation und Gleichgültigkeit mit.

Wie es anders geht, zeigt eine vermeintliche Pragmatikerin: die Wirtschaft. Unternehmen sind schon lange als Sinnproduzenten gefragt. Sie müssen Investoren, Kunden und Personal vermitteln, welche Visionen sie verfolgen, und verständlich, überzeugend und mit Enthusiasmus das Bewusstsein einer gemeinsamen Mission verbreiten.

Die besten Jahre liegen noch vor uns

Den Marktanteil einer Nudelsoße um zwei Prozent zu steigern oder die Reaktionszeit bei Kundenanfragen zu verkürzen ist keine Vision. Das hat mittlerweile jeder CEO begriffen.

Die Politik der Veränderung ist eine, die das Träumen verlangt – etwa wie Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ oder Willy Brandts „mehr Demokratie wagen“. In unserer Zeit voller Umbrüche und Unübersichtlichkeit, brauchen wir Politikerinnen und Politiker, die eine paradoxe Kombination hinkriegen: Visionen haben, die sie getrieben von Vernunft umsetzen. Wer solche Ambitionen hat, muss sicher nicht zum Arzt, sondern handelt verantwortungsvoll.

Wenn wir nicht mehr daran glauben, dass die besten Jahre noch vor uns liegen, machen wir ungewollt die Sehnsucht nach der vermeintlich guten, alten Zeit zum Bindemittel. Zukunftsfähig ist das nicht. Sondern gefährlich. Es profitieren die Populisten. Zum Arzt sollten die gehen, die keine Vision haben. Dann kann die Miesepetrigkeit und die Unfähigkeit, die eigenen Stärken wertzuschätzen gleich mit behandelt werden.
Schwierige Zeiten sind gute Zeiten für visionäre Strategen: für Menschen, die die Gegenwart von einer gelungenen Zukunft aus sehen und fragen, wie man gemeinsam dort ankommt. Was es braucht, ist eine ambitionierte und kommunikative Kraft, alle zum Wandel zu ermutigen und auf dem Weg dahin mitzunehmen. Es lohnt sich für die Gesellschaft und deren Zusammenhalt.

Zum Gastkommentar (handelsblatt.com)