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Unser Chefvolkswirt macht den Selfie-Check.

Wo steht Deutschlands
Wirtschaft wirklich?

Kategorie

In eigener Sache

Datum

07. Juli 2023

Die deutsche Konjunktur zog und zieht die europäische herunter. Um Deutschland herum lagen 2022 viele Wachstumsraten des BIP höher. Im übrigen Euroraum legte das BIP um 4,1 Prozent im Vorjahresvergleich zu, für Deutschland werden nur 1,8 Prozent gemeldet. Prognos-Chefökonom Dr. Michael Böhmer fragt: Seit wann sind wir mit unserer Wirtschaftsentwicklung zufrieden, nur weil es hätte noch schlimmer kommen können? Und das aus einer Lage heraus, in der wir uns im Post-Covid-Aufschwung wähnten und uns auf bis zu 4 Prozent Wachstum freuten?

Der gesamte Artikel „Deutschland ohne Filter – Sieht nicht gerade blendend aus“ von Dr. Michael Böhmer erschien erstmals auf Seite 10 der WirtschaftsWoche (Ausgabe vom 07.07.2023).

Deutschland ohne Filter –
sieht nicht gerade blended aus

Gastkommentar von Michael Böhmer

Seit wann gibt sich die Bundesrepublik damit zufrieden, dass alles ja noch viel schlimmer hätte kommen können? Seien wir ehrlich: Unsere Volkswirtschaft kann immer noch gut posen, aber die Substanz stimmt nicht mehr.

Sie streckt den Arm aus, um sich schräg von oben zu fotografieren. Neigt den Kopf. Lächelt ins Smartphone. Dann drückt sie den Auslöser. Wann immer Deutschlands Volkswirtschaft ein Selfie von sich macht, ist sie eine großartige Poserin. Sieht gut aus. Oder?

Von wegen. Wer genau hinsieht, erkennt die Selbstgefälligkeit. Nach der Finanzkrise startete der vermeintliche Daueraufschwung – und wir knipsten allerlei hübsche Selfies von uns: Bruttoinlandsprodukt (BIP). Knips. Öffentliche Finanzen. Knips. Arbeitslose. Erwerbstätige. Exporte. Knips. Knips. Knips.

Ein großartiger Boom war das ohnehin nicht. Zwischen Finanzkrise und Pandemie hat unsere Wirtschaft pro Kopf nur um durchschnittlich 1,1 Prozent zugelegt, die Produktivität um 0,8 Prozent. Aber das war egal. Unser Umfeld kämpfte noch heftig mit den Folgen von Finanz- und Euro-Krise. Das ließ uns überzogen gut aussehen.

Das Problem sind nicht die geschliffenen Fotos dieser Jahre. Sondern dass wir immer noch denken: Sieht doch gut aus. Man sei wirtschaftlich gut durch 2022 gekommen, stehe trotz hoher Gasund Strompreise und des Lieferstopps gut da. Erfreut wird dann von Resilienz gesprochen, von Flexibilität und Widerstandsfähigkeit. Selbst mit dem jüngsten Wissen, dass wir rechnerisch in eine Rezession gerutscht sind, bleiben viele dabei. Dabei werden wir Ende 2023 wohl auf vier Jahre komplett ohne Wachstum zurückblicken müssen.

Die deutsche Konjunktur zog und zieht die europäische herunter. Um uns herum lagen 2022 viele Wachstumsraten höher als bei uns. Im übrigen Euro-Raum legte das BIP um 4,1 Prozent im Vorjahresvergleich zu, für Deutschland wurden nur 1,8 Prozent gemeldet. Seit wann sind wir mit unserer Wirtschaftsentwicklung zufrieden, nur weil es hätte noch schlimmer kommen können? Und das aus einer Lage heraus, in der wir uns im Post-Covid-Aufschwung wähnten und uns auf bis zu vier Prozent Wachstum freuten?

Tatsächlich läuft es sogar schlechter, als das BIP zeigt: Als Indikator berücksichtigt es nicht, dass ein Teil der erwirtschafteten Einkommen ins Ausland fließt, um die hohen Rechnungen zu begleichen. Wer sehen will, wie etwa die höheren Preise für Erdgas und Erdöl dafür sorgen, dass wir uns von unserem Geld weniger leisten können, muss den sogenannten Realwert des BIP anschauen – also betrachten, was wir uns für unsere Produktion wirklich leisten können. Dieser ging um 0,2 Prozent zurück. Die Differenz von 2,0 Prozentpunkten zum preisbereinigten BIP zeigt, was wir wegen der hohen Importpreise ins Ausland transferiert haben: fast 80 Milliarden Euro.

Die Energiekrise hat die Konjunktur stark belastet. Wir sind alles andere als wirtschaftlich unbeschadet durch die Krise gekommen. Dazu passen die mauen Aussichten für 2023. Bei kälterem Winter und ohne „Doppelwumms“ sähe es noch schlimmer aus.

Warum Scholz nicht auf Ökonomen hört

Es wäre daher fatal gewesen, hätte sich Bundeskanzler Olaf Scholz nach der Studie einer Gruppe von Forschenden gerichtet, die sich bereits kurz nach Kriegsbeginn als Erste mit einem Szenario hervorgewagt hatten. Da befand sich Europa noch im Schockzustand. Der Studie zufolge hätte Deutschland einen Sofortstopp von Energieimporten aus Russland locker verkraftet. „Das sehen die falsch“, sagte Scholz in einer Talkshow. Die Effekte eines Embargos mit solchen Modellen zu kalkulieren sei „unverantwortlich“. Viel Kritik gab es dafür. Scholz sei unbelehrbar, besserwisserisch und sogar wissenschaftsfeindlich.

Dabei zeigte der anschließende Streit in der Wirtschaftswissenschaft, dass wir Volkswirtinnen und Volkswirte es sind, die sich mehr in Bescheidenheit üben sollten. Wenn Demut die Einsicht bedeutet, Teil eines größeren Ganzen zu sein und seinen Platz in der Welt zu kennen, würde etwas mehr davon unserer Zunft nicht schaden. Demut schützt auch vor voreiliger intellektueller Genugtuung.

Wer glaubt, mit Szenarien könne man die ganze spätere Realität simulieren, irrt ohnehin. Ein Szenario ist immer nur ein möglicher Pfad. Im Falle des Jahres 2022 lagen die Studien bei Wohlstandseinbußen zwischen fast null und gut sechs Prozent. Am Ende waren es vier. In keinem der Szenarien sind die Annahmen eins zu eins eingetreten. Der Bundeskanzler tut gut daran, sich nicht auf einzelne Studien zu verlassen. Das wäre in der Tat unverantwortlich.

Wissenschaft kann beobachten, Daten sammeln, Zusammenhänge herstellen, daraus Schlüsse ziehen und diesen Sachverstand der Politik anbieten. Die Politik wiederum kann sich daran orientieren – muss es aber nicht. Sie trägt die Verantwortung. So gesehen ist es für Forschende ein Privileg, Beiträge zu guten Entscheidungen zu leisten. Anspruch darauf, dass die Politik entsprechend handelt, hat man allerdings nicht.

Deutschland hat das Potenzial, wieder so zu werden, wie wir uns gerne sehen. Wenn wir dieses Ziel haben, dann sollten wir schleunigst ein anderes Selfie von uns machen – ehrlich, ernsthaft, ungefiltert. Ein realistischer Blick auf sich selbst war noch nie die schlechteste Voraussetzung für Veränderung und Tatkraft – und damit genau das, was wir für die Zukunft brauchen.

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Dr. Michael Böhmer

Chefvolkswirt, Leitung Corporate Services

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